Doris Bischof-Koehler Publikationen

Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend

Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend: Vorwort

Die Themen, die in diesem Buch behandelt werden, sind wesentlich mitbestimmt durch meine Forschungsschwerpunkte in den vergangenen 30 Jahren. Ein maßgeblicher Gesichtspunkt war die Frage, wie sich motivationale Entwicklungsschritte auf die Kognition auswirken und umgekehrt, welche Rückwirkungen kognitive Veränderungen auf das emotionale Erleben und das soziale Verhalten haben. Phylogenetische Überlegungen und tiervergleichende Betrachtungen bildeten dabei den Bezugsrahmen.

Als ich Mitte der 1980er Jahre am Zürcher Psychologischen Institut begann, den Zusammenhang zwischen Empathie und Selbsterkennen bei Kleinkindern zu untersuchen, betrat ich weitgehend Neuland, denn abgesehen von einer Beobachtungsstudie von Zahn-Waxler gab es keine methodisch befriedigenden Experimente zur Empathie bei Kleinkindern. Es galt also zunächst einmal, ein möglichst naturalistisches und gleichwohl kontrolliertes Versuchsdesign zu entwickeln. Die Themenstellung erwies sich als Fundgrube, der Zusammenhang zwischen Empathie und Selbsterkennen und ergänzend auch zur Bindungsqualität ließ sich in mehreren Studien eindeutig belegen.

Im gleichen Zeitraum entwickelte sich die Theory of Mind zum Gegenstand eines blühenden Forschungszweiges. Sie wurde zu einem weiteren Schwerpunkt unserer Arbeit. Üblicherweise hat die Forschung zu diesem Thema eine primär sozial-kognitive Stoßrichtung. Aufgrund evolutionstheoretischer Überlegungen interessierten uns jedoch auch die Auswirkungen der neu entstehenden Fähigkeiten auf Motivstruktur und -organisation. Konkret ging es um die spezifisch menschliche Strategie, zukünftige und vergangene Motive in der Gegenwart handlungsrelevant werden zu lassen, also gleichsam auf mentale Zeitreise zu gehen. In diesem Kontext rückte die Entstehung eines expliziten Zeitverständnisses in den Fokus der Betrachtung. Dessen frühestes Auftreten, das bislang auch bei Fünfjährigen vermutet wurde, stellte eine weitere methodische Herausforderung dar. Das Gleiche galt für die Untersuchung der Frage, ob und wie sich die Koinzidenz von Zeitverständnis und  Theory of Mind auf Planungsverhalten und Motivmanagement bei Vorschulkindern auswirkt. Eine mehrjährige Förderung durch den Schweizerischen Nationalfonds erlaubte es, in einer ausgiebigen Pilotphase kindgemäße Versuchsdesigns hierzu zu entwickeln und die vermuteten Änderungen zu belegen. Dankbar erinnere ich mich an meine Mitarbeiter beim Nationalfonds-Projekt, aber auch an die vielen Studierenden, die als Praktikanten an Versuchsdurchführungen beteiligt waren beziehungsweise in Form von Lizentiatsarbeiten wichtige Beiträge leisteten. Auf diese Weise wurden im gleichen Zeitraum aufschlussreiche Befunde zum Bindungs- und Explorationsverhalten sowie zur Autonomieentwicklung von Kleinkindern und Jugendlichen erhoben. Dabei ergaben sich auch Hinweise auf geschlechtstypische Verhaltensunterschiede; sie werden an anderem Ort ausführlich behandelt.

Gegenwärtig besteht die Tendenz, das Konzept »Theory of Mind« eher inflationär zu gebrauchen. Als Folge hat sich zu diesem Stichwort eine Fülle empirischer Ergebnisse und zum Teil recht vage formulierter Theorien angesammelt in Anbetracht derer es unumgänglich ist, eine kritische Evaluation vorzunehmen und theoretisch klar Stellung zu beziehen. Insbesondere geht es darum, verschieden komplexe Mechanismen voneinander abzugrenzen und die Rolle von Emotionen beim Erkennen und der Verhaltenssteuerung zu klären.

Unbefriedigend ist vor allem die Vermengung von Empathie und Theory of Mind. Während man den Schimpansen und einigen weiteren Tierarten sozial-kognitive Fähigkeiten auf der Basis von Empathie sicherlich zugestehen kann, ist dies bei der Theory of Mind eher fraglich. In den diesbezüglichen Diskussionen waren vor allem David Premack, Hans Kummer und Josef Perner anregende Gesprächspartner.

Im Unterschied zur Theory of Mind sind Zeitverständnis, Exploration, Autonomieentwicklung sowie das Motivmanagement bei Kleinkindern Themen, zu denen es kaum neuere Forschung gibt, so dass man in diesen Bereichen weitgehend auf ältere Studien zurückgreifen muss. Dabei sind Untersuchungen mit ethologischer Orientierung z.  B. zum Rangverhalten sowohl inhaltlich als auch wegen ihres naturalistischen Vorgehens von besonderem Interesse. Es wäre bedauerlich, wenn sie in Vergessenheit gerieten, nur weil sie »aus dem letzten Jahrhundert stammen«, zumal diese Art Forschung unter dem modernen Zwang, ständig zu publizieren, zeitlich kaum mehr realisierbar ist. Hingegen wird man in diesem Buch vergeblich nach Befunden aus bildgebenden Verfahren Ausschau halten. Zwar entspricht es gegenwärtig dem Trend, sich in der Psychologie auf sie zu beziehen, indessen konnte ich bei dem derzeit doch eher noch diffus erscheinenden Kenntnisstand nichts entdecken, das mir in Bezug auf die behandelten Themen erwähnenswert erschien.

Nach der Zürcher Emeritierung von Norbert Bischof konnten wir unsere Forschung an der Universität München dank finanzieller Förderung durch die Köhler-Stiftung (Dr. Lotte Köhler) und die Heidehofstiftung (Dr. Eva Madelung) weiterführen. Dabei erhielt ich auch dankenswerterweise institutionelle Unterstützung durch das Department Psychologie. Besonders erwähnen möchte ich den fruchtbaren wissenschaftlichen Austausch mit Beate  Sodian, an deren Lehrprogramm ich mich regelmäßig beteilige. Der Akzent unserer Münchner Forschung lag nun auf affektiven Umbrüchen in der Eltern-Kind-Beziehung im fünften Lebensjahr, die Freud im Sinne seiner »ödipalen« Theorie gedeutet hat, die sich jedoch zwangloser als Auswirkung der in diesem Altersabschnitt einsetzenden kognitiven Veränderungen identifizieren lassen. Die am Projekt Beteiligten – Gregor Kappler, Jörg Stuckenkemper, Nadja Seel, Annette Mangstl, Norbert Zmyj und Eva-Maria Groh – leisteten mit ihren Diplom- und Doktorarbeiten wertvolle Beiträge zu dem Thema.

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